5.
Sharleen hielt den Telefonhörer fest an ihr Ohr gepreßt. Sie bemühte sich, mit Sy Ortis nicht die Geduld zu verlieren. Immerhin half er ihr an allen Ecken und Enden, brachte ihr Verhaltensregeln bei und half ihr, so manche Klippe zu umschiffen. Doch was er jetzt verlangte, ging ihr gegen den Strich.
»Stars gehen nicht auf Partys von Bühnenarbeitern und Technikern. Das gehört sich nicht«, wiederholte Sy gerade.
»Warum denn nicht? Ich bin immer hingegangen und hab mich toll amüsiert. Was hat sich denn geändert?«
»Alles. Zieren die Bilder dieser Leute etwa die Titelseiten? Machen die eine Million Dollar im Jahr? Sharleen, Sie müssen unter Leute. Das ist richtig. Aber unter Leute Ihrer Klasse. Unter Stars. Hat sich Michael McLain eigentlich jemals mit Ihnen in Verbindung gesetzt? Er hat sich von mir Ihre Nummer geben lassen.«
Sharleen errötete. Sie war froh, daß sie Ortis jetzt nicht gegenübersaß, denn sie erinnerte sich nur ungern an den Abend mit Michael McLain. Das alles verwirrte und beschämte sie noch immer. Erst war es riesig aufregend gewesen, mit einem Filmstar auszugehen. McLains Freundlichkeit, sein Geschenk, sein Optimismus in Bezug auf ihre Karriere, all das hatte Sharleen genossen. Doch dann kam der Champagner, der Schwips — und das andere.
Sie wunderte sich nicht, daß sie nichts mehr von ihm gehört hatte. Nicht mal angerufen hatte er. Doch so wie Sharleen sich benommen hatte, mußte ein Mann ja jeden Respekt verlieren. Sie fühlte sich beschmutzt und dachte möglichst nicht daran. »Er hat einmal angerufen, aber dann nicht mehr«, antwortete sie auf Sys Frage. Sie trug noch immer die Kette, die ihr Michael geschenkt hatte. »Bloß weil ich ein Star bin, hat sich nun alles geändert?« vergewisserte sie sich.
»Genau. Meine Liebe, Sie sind einfach zu groß, um sich auf einer Party von Stuntmen sehen zu lassen. Außerdem gibt es auf solchen öffentlichen Partys keine Sicherheitskontrollen. Wenn es bekannt wird, daß Sie sich dort sehen lassen, bricht das Chaos aus. Niemand kann Sie dann beschützen. Mit Ihrem Besuch machen Sie den Leuten nur Schwierigkeiten. Es sind ja alles nette Leute, und die mögen Sie auch, aber es ist notwendig, daß Sie sich von Ihnen zurückziehen.«
Sharleen sah die Argumente ein. Doch sie war unglücklich. Ihr Leben bestand nur aus Arbeit und Unterricht: Gesangs- und Tanzunterricht. Sie war sterbensmüde und sehnte sich nach ein bißchen Ablenkung. Dazu kam, daß Sy Ortis ihr ständig zusetzte, sie solle eine Plattenaufnahme machen. Dabei kam sie sich total albern vor. Sie wußte, daß sie nicht singen konnte. Doch Ortis versprach sich davon gute Einnahmen, und so ließ Sharleen sich schließlich von ihm dazu überreden.
Außer gegen Müdigkeit kämpfte Sharleen gegen ihre Einsamkeit. Sie wußte, daß sie eigentlich keinen Anlaß hatte, traurig zu sein. Sie hatte Dean, ein neues Haus und jedes Zimmer so eingerichtet, wie sie es sich erhofft hatten. Die Auswahl der Möbel, das Studieren der Kataloge hatten eine Zeitlang viel Spaß gemacht. Doch nun stand alles da, wo es hingehörte. Die Abende wurden lang, wenn man nicht ausgehen oder jemanden besuchen konnte.
Dean empfand das nicht so sehr. Tagsüber konnte er gehen, wohin er wollte, ohne von einer Menschenmenge überfallen zu werden. Niemand erkannte ihn in einem Supermarkt. Er konnte seine Pizza essen, wo es ihm Spaß machte. Natürlich brachte er dann eine Pizza für sie zum Abendessen mit. Doch das war nicht das gleiche.
Früher einmal konnte Sharleen sich kaum ein Telefongespräch von einer öffentlichen Telefonzelle leisten. Jetzt hatte sie Telefonapparate in jedem Zimmer ihres Hauses und durfte die Gespräche nicht entgegennehmen, konnte nicht einmal jemanden anrufen, denn wen kannte sie schon?
»Werde ich je wieder in einem Supermarkt einkaufen können?« fragte sie Sy Ortis kleinlaut.
Er lachte. »Hoffentlich nicht, meine Liebe.«
Sie hatten wirklich ein schönes Haus, ein großes Grundstück. Ortis hatte einen Wachdienst angestellt. Die Leute beobachteten das Haus rund um die Uhr. Doch auch sie konnten es nicht lassen, Sharleen mit Blicken zu verfolgen, sie anzuglotzen, wenn sie sich sonnte oder in den Pool sprang. Das nervte Sharleen.
Wie gern wäre sie einmal die Straße entlang geschlendert, hätte sich in den Geschäften umgesehen, mal ein neues Kleid oder einen Pullover ausprobiert und anschließend bei McDonald's einen Hamburger gegessen. Danach hatte sie sich schon in Texas gesehnt. Jetzt wäre das Geld dazu da. Doch der Hamburger blieb für sie unerreichbar.
Natürlich konnte sie sich auch in einem renommierten Restaurant einen Hamburger bestellen. Aber schmeckte ein Hamburger noch, wenn man vorher einen Tisch bestellen mußte und von einer kleinen Heerschar beflissener Kellner verwöhnt wurde? Dean trug nicht gern Krawatten. Er fühlte sich auch in solchen Restaurants nicht wohl und mochte es noch weniger, von allen mit Stielaugen betrachtet zu werden.
Dean brachte oft Videos mit nach Hause, solche, die er mochte. »Der Terminator« und so etwas. Viele Leihvideos sah er sich wieder und immer wieder an. Doch Sharleen fand keine Freude daran. Sie hatte ihren inneren Drive verloren. Es reizte sie wenig, sich von einem Fahrer durch die Einkaufsviertel kutschieren zu lassen. Es nervte sie, die obszönen oder schwülstigen Anrufe zu hören. Es trieb sie zur Verzweiflung, nicht mehr sie selbst sein zu dürfen.
Herrgott im Himmel, betete sie. Verzeih, daß ich dich um soviel gebeten habe. Es war zuviel. Wahrscheinlich habe ich nicht damit gerechnet, daß du mir all das auch geben würdest.